V. O. Carter: Meine weisse Stadt und ich

Cover
Titel
Meine weisse Stadt und ich. Das Bernbuch


Autor(en)
Carter, Vincent O.
Erschienen
Zürich 2021: Limmat Verlag
Anzahl Seiten
440 S.
von
Emil Erne

Der US-amerikanische Schriftsteller und Künstler Vincent O. Carter ist in den letzten Jahren neu entdeckt worden. Ein bereits 1963 abgeschlossenes Manuskript, für das er keinen Verleger fand, wurde 2003 unter dem Titel Such Sweet Thunder. A Novel erstmals publiziert. Es handelt sich um ein anschauliches Bild des Lebens einer schwarzen Familie im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts. Sein einziges zu Lebzeiten erschienenes Buch The Bern Book. A Record of a Voyage of the Mind (New York, 1973) ist 2020 neu als Paperback aufgelegt worden und letztes Jahr erstmals in deutscher Übersetzung herausgekommen. Carters zeichnerisches Schaffen würdigte im September 2020 eine Ausstellung im Künstlerhaus an der Postgasse 20 in Bern («Vincent O. Carter – A Traceable Line»).

Geboren 1924 in Kansas City (Missouri, USA), wuchs er in bescheidenen Verhältnissen im schwarzen Ghetto auf, wurde in die Armee eingezogen und nahm 1944 an der Landung in der Normandie und der Befreiung von Paris teil. Schon damals beschloss er, später dorthin zurückzukehren und Schriftsteller zu werden. Nachdem er in Amerika Literatur, Philosophie und Religionswissenschaften studiert hatte, kam er 1953 wieder nach Europa. In Paris hatte inzwischen die Stimmung umgeschlagen: Statt auf Begeisterung traf er auf Ablehnung. Nach ebenfalls unbefriedigenden Aufenthalten in Amsterdam und München reiste Carter weiter nach Bern, um Freunde, die hier in der amerikanischen Botschaft arbeiteten, zu besuchen. Und in einer Art selbstgewählten Exils verblieb er in Bern bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1983.

Den Lebensunterhalt verdiente er sich mit Erzählungen hauptsächlich für amerikanische Zeitschriften, Sendungen für das Schweizer Radio und Englischunterricht. Seine Erfahrungen als schwarzer Amerikaner in einer Stadt von Weissen verarbeitete er im vorliegenden Buch, das er schon 1957 fertiggestellt hatte, aber erst 1973 in seinem Herkunftsland veröffentlichen konnte. Es bietet einen kritisch-ironischen Blick auf die Stadt Bern und die Schweiz in den 1950er-Jahren.

In der aktuellen Rezeption wird vor allem die soziologische und ethnografische Bedeutung seiner Sicht auf den damaligen offenen und versteckten Rassismus hervorgehoben. Carter berichtet manchmal amüsiert, manchmal verärgert in 78 meist kleineren Kapiteln über seine Erlebnisse in Europa und seine Begegnungen mit Bernerinnen und Bernern. Dass er 1953 am Vorabend der Feierlichkeiten zum Jubiläum «600 Jahre Bern im Bund» kein Zimmer fand und auf die Unterstützung des Botschaftspersonals angewiesen war, ist nachvollziehbar. Diskriminierende Erfahrungen machte er danach bei der lange erfolglosen Zimmersuche. Er verhehlt aber auch nicht, dass er auf wohlwollendes Interesse an seiner Person stiess, finanzielle Unterstützung erhielt und regelmässig zum Essen eingeladen wurde. Fertigwerden musste er mit dem Angestarrtwerden, der Bezeichnung mit N-Wörtern und den immer gleichen Fragen, hinter denen Vorurteile steckten, vor allem mit der Frage, warum er ausgerechnet nach Bern gekommen sei.

Eigentlich trifft der Untertitel der Originalausgabe den Charakter des Werks genauer, handelt es sich doch – Carter nennt es ein «Reisebuch» (S. 7) − um den Bericht über eine mentale Reise, eine Reise in die Fremde, um sich zu finden, im Fall Carters, um Schriftsteller zu werden. Der Autor erzählt von Erlebnissen, die eher unspektakulär und vorwiegend auf seine eigene Person bezogen sind. Es ist eine intensive Auseinandersetzung mit alltäglichem Rassismus. Eingestreut sind essayistisch philosophische Überlegungen; Carter erweist sich als belesen und mit der europäischen Kunst und Kultur vertraut.

Im Klappentext wird das Buch als «scharf beobachtetes Porträt seiner Zeit, seiner Gesellschaft und seiner Stadt» bezeichnet. Carter wohnt im Kirchenfeld, wo er eine «Friedhofsruhe» verzeichnet, im Weissenbühl und im Fischermätteli, besucht Bars und Tea-Rooms, die damals neu sind und die er eingehend beschreibt, geht immer wieder über die Kirchenfeldbrücke und streift durch die Altstadt. Er wundert sich über Berns Provinzialität, obwohl es die Hauptstadt der Schweiz ist. Die Stadt sei «gut geplant, wenn auch mit einer sterbenslangweiligen Klarheit, der es an jener edlen, atemberaubenden Erhabenheit» fehle, die eine Grossstadt auszeichne (S. 376). Vielfach sind seine Beobachtungen Verallgemeinerungen, manchmal auch Klischees (zum Beispiel über Ordnung, Sicherheitsbedürfnis, Sauberkeit, Ruhe). Seine «fingierte kleine Geschichte der Schweiz» (S. 326ff.) bezieht nicht ohne Ironie auch die Stellung der Frauen mit ein, die er als adrett gekleidet und stets «hübsch» beschreibt, die aber politisch nichts zu sagen haben. Gegen Ende des Buches entfernt er sich immer mehr von Bern und äussert sich generell zur Schweiz und zu den Schweizern und Schweizerinnen. Der Ertrag für die Geschichte Berns fällt insgesamt nicht so ergiebig aus, wie das «Bernbuch» im Titel verheisst, bleibt Carter doch vielfach an der Oberfläche und hätte seine Erfahrungen als Schwarzer in der damaligen Zeit wohl auch in andern Schweizer Städten machen können.

Im Nachwort relativiert der Autor, Dramaturg und Journalist Martin Bieri Carters Behauptung, der erste und einzige Schwarze in Bern gewesen zu sein, doch war er wohl einer der ersten, der blieb und den man in der Stadt immer wieder antraf; umgekehrt habe Vincent O. Carter Bern zu einem Ort in der amerikanischen Literaturgeschichte und einem Ort der schwarzen Literatur gemacht.

Zitierweise: Carter, Vincent O.: Meine weisse Stadt und ich. Das Bernbuch. Aus dem amerikanischen Englisch von Pociao und Roberto de Hollanda, Nachwort von Martin Bieri. Zürich 2021. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 84 Nr. 3, 2022, S. 47-49.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 84 Nr. 3, 2022, S. 47-49.

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